Heute Abend findet im Rahmen der 27. Ausgabe des Sofia Filmfests die Premiere des Dokumentarfilms „Verlorene Erinnerungen“ von Slatina Russewa statt. Die Idee des Films ist es, die Zuschauer anzuregen, sich Gedanken über die Geschichte zu machen und Vergleiche zu ziehen – zwischen dem, wie sie uns erzählt wird und den realen Ereignissen und Prozessen.
„Das ist ein Film über das Gedächtnis, über unser Gedächtnis“, erklärt die Autorin. „Denn Gedächtnis und Geschichte sind zwei grundverschiedene Dinge. Die Geschichte ist etwas, was wir schreiben und schaffen, damit es uns dient. Sie hat soziale Funktionen. Das Gedächtnis aber ist etwas, was wir in unserem tiefsten Inneren tragen, was unsere Persönlichkeit formt und uns erlaubt, „mit der Zeit zu fahren“. Im Film benutze ich das Wasser und den Fluss als Symbol. Es gibt viele Studien, die belegen, dass das Wasser ein Gedächtnis hat und sogar Emotionen speichern kann. Musik ist ebenfalls ein Gedächtnis. Sie ist eine rhythmische Wahrnehmung der Welt. Unser Film soll die Idee vermitteln, dass das Gedächtnis der Musik das Gedächtnis des Wassers wecken kann, so dass das Wasser beginnt, uns seine „Erinnerungen“ zu erzählen. Es kommt zu einer Zeitreise, die sich der Gegenwart und der Vergangenheit zugleich abspielt. Und es entsteht das Gefühl, als würden zwei Arten von Passagieren an Bord gehen – die eine Gruppe sind Zeitgenossen und die andere Menschen, die vor beispielsweise 70 oder 80 Jahren auf das Schiff gestiegen sind. Die Reise beginnt. Während die Musiker auf das Wasser schauen, beginnen sie ihre Erinnerungen zu erzählen. Das Wasser auch. Für mich war dieser Film sehr wichtig, weil ich das Gefühl habe, dass wir heutzutage unser Gedächtnis verloren haben. Die Generationen vor uns hatten eine starke Bindung zur Geschichte. Sie sorgt für die Identität und das Selbstwertgefühl eines Volkes. Einer der Filmhelden sagt: „Wir nehmen die Geschichte so auf, wie man sie uns erzählt. Dabei weiß der Fluss vielleicht die Wahrheit über die Ereignisse.“ Wir sehen, dass die Geschichte sich eigentlich wiederholt und dass viele Dinge, die heute passieren, an die Geschehnisse in den 1930er und 1940er Jahren erinnern. Mit Hilfe dieses Films unternehmen wir eine Reise durch die gesamte europäische Geschichte, in der Begleitung wunderbarer Musiker und einer Gruppe von Passagieren, die ein „ewiges Fest“ feiern. Am Ende bleibt die Frage, wohin die Reise führt, was für ein Leben wir gern leben würden, was für Lektionen wir gelernt haben“, sagt Slatina Russewa.
Vor Jahren hat sie zwei Ausgaben eines ungewöhnlichen Festivals organisiert, das „Gegen den Strom“ hieß. Die Bühne war ein Kreuzfahrtschiff, das vom bulgarischen Donauufer gegen den Strom in See sticht. In allen Ländern, wo es Halt gemacht hat, stiegen Musiker an Bord, die die jeweilige Landeskultur präsentieren. Schon damals sagte die Regisseurin, das Videomaterial über diese Reise sei extrem umfangreich, zugleich aber auch sehr bewegend und einmalig. Und mit Blick auf die Helden sagt sie:
„Im Film werden phantastische Musiker gezeigt – über 30 virtuose Künstler, Persönlichkeiten mit großem Einfluss auf das musikalische und geistige Geschehen. Von bulgarischer Seite sind das Petar Raltschew und Teodosij Spassow. Wir haben auch Aufnahmen mit der vielleicht besten Zigeuner-Gruppe „Romengo“, mit Zoltán Lantos, der heute zu den Top-10-Musikern der Welt gehört. Eigens für die Filmpremiere kommt der Darbuka-Virtuose Mısırlı Ahmet nach Sofia: Das ist einer der weltweit besten Interpreten auf diesem Instrument, wenn nicht gar der beste. Er hat lange Zeit in der ägyptischen Wüste gelebt und von den größten Meistern gelernt. Unbedingt erwähnen muss ich auch Carlos Núñez Muñoz, der ein echter Star ist. Es sind so viele Namen, dass ich sie nicht alle aufzählen kann. Die Musik im Film ist äußerst mannigfaltig und das war eines der größten Probleme bei der Montage. Aber ich denke, dass wir unsere Sache gut gemeistert haben – es ist eine metaphoristische Fusion zwischen Menschenschicksalen entstanden, ein Wechsel und ein Ineinanderfließen von einzelnen Stories und unterschiedlichen Musikstils, eine Synchronisierung zwischen dem Fluss und der Musik, was ein einmaliges Gefühl von Gedächtnis vermittelt. Der Film ist Musik, ich würde ihn als Musikpoem bezeichnen. Der Sound im Film schafft eine zusätzliche Realität, er verknüpft Vergangenheit und Gegenwart und Hauptheld dabei ist der Fluss. Wir mussten seine Stimme finden, die Stimme des Flusses… Dieser Film ist eine lange, lange Suche.“
Produzent des Films ist Ljubomir Georgiew, der Ehemann von Slatina. Zusammen gründeten sie 1989 ein Kulturzentrum in Belgien und die Filmproduktionsgesellschaft “Diogenes“, sie organisierten das Dokumentarfilmfestival „Millennium“, das Festival der bulgarischen Kultur in Brüssel u.a. Zum Team, das am Film „Verlorene Erinnerungen“ gearbeitet hat, gehört der Kameramann Plamen Gerassimow, Marieta Tschukowska war für den Schnitt und Mariana Walkanowa für das Musikdesign zuständig. Nach der Filmpremiere heute Abend ist eine Musikparty geplant, an der sich auch einige der Filmhelden und ihre Freunde beteiligen werden.
Übersetzung: Rossiza Radulowa
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