Ostbulgarien ist in zwei Planungsregionen unterteilt, die im Norden von der unteren Donau, im Osten vom Schwarzen Meer und im Süden von der Türkei umrahmt sind. Was sind die Besonderheiten Ostbulgariens - nördlich und südlich des Balkangebirges?
Unser heutiges Interview mit dem Wirtschaftswissenschaftler Adrian Nikolow vom Institut für Marktwirtschaft startet mit dem Verwaltungszentrum des Nordostens – Warna, wo über 336.000 Menschen leben:
„Interessanterweise ist die Gemeinde Warna in Bezug auf Gehälter und Beschäftigung kein Champion in der Region. Dewnja, ein bekanntes Zentrum der chemischen Industrie, behält seine Führungsposition in puncto Industrie bei. Dort arbeiten Menschen aus den umliegenden Gemeinden. Die Stadt unterhält eine vitale Industrie, was mit hohen Löhnen und guten Arbeitsplätzen einhergeht. (Angaben des Instituts für Marktwirtschaft zufolge weist die Gemeinde Dewnja mit 92.300 Euro pro Person die höchsten ausländischen Direktinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung auf. Der Durchschnittslohn beträgt 838 Euro pro Monat und ist höher als in Sofia und Plowdiw).
Das Problem sind die Regionen mit gemischter Bevölkerung Rasgrad, Targowischte, Silistra (wo Bulgaren und Türken leben). Bislang hinken sie in Sachen wirtschaftliche Erholungsprozesse den anderen hinterher. Ebenfalls sehr interessant ist das Bezirkszentrum Dobritsch, da es vor dem Hintergrund des restlichen Landes, das sich zunehmend industrialisiert, sein stark ausgeprägtes landwirtschaftliches Profil beibehält. Dieser Umstand hält die Löhne leider niedrig. (Dem Nationalen Statistikamt zufolge lagen sie Ende 2019 bei 505 Euro pro Monat). Das ist das große Problem. Dobritsch hat es aufgrund seines nicht besonders guten Lebensstandards sehr schwer, Arbeiter aus benachbarten Gemeinden und Bezirken anzuziehen.
Müssten wir regionale Leader nennen, die die restliche Wirtschaft im Nordosten vorantreiben, dann sind das zweifellos Warna als Touristenzentrum, Hafenstadt und Logistik- und Handelszentrum sowie Dewnja, wo die Industrie floriert.
Kurioserweise ist der Nordosten Bulgariens als Hinterland eher an Rumänien als an die bulgarische Wirtschaft und Logistik gebunden."
Historisch gesehen war der Südosten Bulgariens wiederum immer mit der Türkei verbunden. So eine Metropole mit 17 Millionen Einwohnern wie Istanbul ist ein ernstzunehmender Markt. Inwieweit hilft diese Verbindung der Region oder verfügt sie auch über anderweitiges Potenzial?
„In Bezug auf die Gemeinden sind in der Region Burgas extrem negative wirtschaftliche Prozesse zu beobachten. Malko Tarnowo, auf halbem Wege zur Landgrenze mit der Türkei und zum Strandscha-Gebirge, ist ein Ort mit langer und schwerer Arbeitslosigkeit.
Jambol ist ein sehr interessanter Fall. Dort haben mehrere große Industrieinvestitionen zur schnellen Wirtschaftsentwicklung der Stadt beigetragen (neben dem traditionell starken Agrarsektor, der Lebensmittelindustrie und der Textilproduktion konnten in der Gemeinde auch neue Industrien angesiedelt werden, beispielsweise die Produktion von elektrischer Kfz-Ausrüstung, Hydraulikgeräten, Instrumenten etc.). Allerdings reden wir hier von einer Industrie mit einem geringen Mehrwert. Das ist ein Teil der Probleme solcher kleineren Wirtschaftszentren in Südbulgarien. In letzter Zeit etabliert sich Jambol dank einer sehr großen Einzelhandelskette auch zu einem Logistikzentrum.
Sliwen ist eine andere Geschichte. Das ist einer der Orte in Südbulgarien, wo die rege Wirtschaftstätigkeit einen weiten Bogen macht und die Arbeitslosigkeit groß ist, insbesondere unter den Jugendlichen. Burgas als regionales Zentrum kann das industrielle Entwicklungsmodell von Warna nicht nachmachen. Im Süden ist der Tourismus zwar viel intensiver, aber er schafft nur befristete Arbeitsplätze.“
Um eine Stagnation zu vermeiden, sollte nach Ansicht von Adrian Nikolow die Entwicklung dieser Wirtschaftszone an Industriezentren wie Plowdiw und Stara Sagora gekoppelt werden und Burgas sollte zum Logistikzentrum der gesamten Südostregion avancieren.
In dieser Region Bulgariens befindet sich noch ein weiteres spezifisches Gebiet – Kardschali in den östlichen Rhodopen, an der Grenze zu unseren beiden südlichen Nachbarländern, Griechenland und der Türkei. Dieser Flecken Bulgariens zeichnet sich durch eine sehr interessante Dynamik aus, sagt der Analyst:
„In vielen Gemeinden dort gibt es einen starken mechanischen Bevölkerungsanstieg – offensichtlich wollen viele Menschen in diese Gegend ziehen. Die Nähe zur Türkei ist ein wesentlicher Faktor, weil dort viele türkische Unternehmen konzentriert sind. Während der schweren Krise in Griechenland haben auch viele griechische Unternehmer ihre Geschäftstätigkeit in diese Region verlegt. Ein großes Problem stellt hier aber das Gelände dar. Die Verbindungen zwischen Kardschali und dem Rest Bulgariens gestalten sich schwierig und so baut es ganz natürlich seine Wirtschaftsverbindungen viel mehr mit Nordgriechenland und der Türkei aus als mit dem Rest Bulgariens. In diesem Sinne sind die wirtschaftlichen Prozesse in dieser Region eher eigenständig und kaum mit denen im übrigen Land verbunden.“
Sollten wir um jeden Preis eine gleichzeitige und gleichmäßige Entwicklung aller bulgarischen Regionen anstreben? Dieser Frage werden wir in einem weiteren Gespräch mit Adrian Nikolow im Rahmen der Reihe „Geschichten aus den bulgarischen Regionen“ nachgehen.
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