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Über das Wahlrecht als erkämpften Wert und die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft

Iwan Kantschew: Bulgaren glauben nicht mehr, dass von ihrer Stimme etwas abhängt

Individualismus und fehlende demokratische Traditionen bringen in Bulgarien Koalitionsregierungen zu Fall

Foto: Privatarchiv

Er ist jung, gebildet und Autor von vier Büchern; er entschied sich, in seiner Heimat Bulgarien zu bleiben und ihre Geschichte den jüngeren Generationen auf eine neue und attraktive Weise näher zu bringen. Die Rede ist von Iwan Kantschew, einer der Gründer des Vereins „Bulgarische Geschichte“. Er erinnert daran, dass die Geschichte, die wir schreiben, nicht mit uns und unserer Sicht auf sie beginnt. Es sei gut, meint er, sich das gerade vor den Wahlen, die am 2. Oktober stattfinden, vor Augen zu führen, denn jeder von uns ist Mitgestalter der Zeit, in der wir leben. Eine unserer großen Verantwortungen sei es, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen, das wir zunehmend als selbstverständlich ansehen und nicht als einen erkämpften Wert von außerordentlich großer Bedeutung für unser Leben, meinte Iwan Kantschew in einem Interview für Radio Bulgarien.

„So kann ich mir zumindest die Einstellungen in unserer Gesellschaft erklären, denn die Realität ist mehr als unangenehm. In meinen Augen ist sie sogar erschreckend. Leider beobachten wir einen äußerst unangenehmen Trend des immer geringeren Interesses in der Gesellschaft. Nicht nur in Bezug auf die Wahlen; es herrscht allgemein ein geringes politisches Engagement der Bürger, insbesondere unter den jungen Menschen. Es wächst eine neue Generation heran, die politikfern lebt, ihr Wahlrecht nicht ausübt und sich nicht engagieren will. Wenn wir über die letzten 30 Jahre sprechen, ist der Trend eindeutig rückläufig. Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erreichte das politische Engagement in Bulgarien fast Rekordhöhen, die es selbst zu Zeiten vor dem Machtantritt der Kommunisten (1944) nicht gegeben hat. All das geht jetzt verloren, ist vorbei, und dieser Prozess ist meiner Meinung nach weitgehend unumkehrbar.“

Wussten Sie, dass es in der bulgarischen Geschichte nach 1879 eine Zeit gab, in der die Teilnahme an Wahlen nicht nur obligatorisch war, sondern auch denjenigen Geldstrafen auferlegt wurden, die ihr Wahlrecht nicht ausübten? Iwan Kantschew spricht sich für eine derartige Maßnahme aus, auch wenn sie nicht allzu demokratisch anmutet.

Etliche Bürger sind zunehmend mehr davon überzeugt, dass „die Wahlen nichts ändern. Wenn sie es tun könnten, hätte man sie längst verboten“.  Laut dem jungen Historiker sei diese Einstellung ein Ergebnis des abgedroschenen Geredes der Politiker, ihrer hohlen Wahlversprechen und des schwierigen Lebens der Bürger.

Und so wird das vergessene „Gestern“ „morgen“ wiederholt, meint Iwan Kantschew, der davon überzeugt ist, dass die Wahlen für die Entwicklung einer Gesellschaft von enorm großer Bedeutung sind.

„Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, gab es sogar bei einer der ersten Wahlen in unserem Land Wahlbetrug. Aber trotz solcher Versuche ist klar ersichtlich, dass, wenn sich die Menschen um eine politische Kraft, um eine bestimmte Idee vereinen, ihre Entscheidung nicht verändert werden kann. Wir haben das Gefühl verloren, dass etwas von unserer Stimme abhängt, und ich denke, die soziale Spaltung hat ein solches Ausmaß erreicht, dass wir nur noch mit Gleichgesinnten sprechen. Wir bewegen uns einzig in unseren eigenen sozialen Kreisen und es fällt uns schwer, auf andere zuzugehen, unseren Standpunkt darzulegen und den anderen entsprechend zu vernehmen.“

Der Grund dafür ist in der Volkspsychologie der Bulgaren zu suchen, die von Natur aus Individualisten sind. Laut Iwan Kantschew ist das einer der Gründe für das Scheitern von Koalitionsregierungen in der bulgarischen Geschichte, einschließlich der letzten.

„Der andere Grund ist die fehlende demokratische Tradition im Land“, sagt der junge Historiker. „Wir sind oft über die breiten Koalitionen in Westeuropa verwundert und vergessen, dass sie eine jahrhundertealte Tradition zur Grundlage haben. Wir müssen uns vor Augen führen, dass unsere demokratische Geschichte keine 100 Jahre hinter sich hat – von der Neugründung des Staates 1878 bis zum Machtantritt der Kommunisten 1944 und von der Wende zur Demokratie 1989 bis heute. Das ist historisch gesehen eine sehr kurze Zeitspanne. Wir besitzen also nicht die nötige Tradition der Demokratie, und wissen nicht genau, wie sie funktioniert und welche ihre Mechanismen sind. Auch herrscht weltweit der Trend, dass wir und unsere Gesellschaft zunehmend egoistischer werden. Manche nennen das Besonderheiten der Epoche, ich nenne es Problem, und bei uns ist es noch akuter. All das zusammengenommen verursacht einen Teufelskreis – wir geraten von einer politischen Krise in die nächste, verursacht durch die mangelnde Bereitschaft, den anderen zuzuhören und sie zu akzeptieren.“

Trotz allem wird die Geschichte weitergeschrieben. Und an diesem Sonntag wird Iwan Kantschew seine Stimme für die Bildung der künftigen 48. Volksversammlung Bulgariens abgeben.

„Ich habe keine einzige Wahl verpasst, aber ich gebe zu, dass es für mich diesmal schwieriger ist. Ich bin mir nicht sicher, ob die Dinge, an die ich glaube, verteidigt werden können. Aber ich gehe wählen, weil einfach gewählt werden muss“, sagt entschieden der Bulgare.

Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow

Fotos: Privatarchiv, Ani Petrowa



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