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Das politische Jahr 2023 – dynamisch und voller Kompromisse

Politisch äußerst dynamisch, mit einem Gefühl grenzenloser Toleranz gegenüber den Fehlern der Regierenden seitens der Gesellschaft. So kann allgemein das Jahr 2023 aus der Sicht der Politikwissenschaftler Sergej Petrow und Swetlin Tatschew eingeschätzt werden. Wir wurden Zeugen einer politischen Kehrtwende und ernsthafter Kompromisse, um einen Ausweg aus der Spirale von fünf vorgezogenen Neuwahlen in Folge zu finden. Der politische Jargon wurde um umschreibende Begriffe für Koalition reicher wie beispielsweise „Zusammenfügung“, „Nicht-Koalition“, „Gebilde“.
Sergej Petrow
„In Bulgarien haben wir eine Koalition, die zwar als Nicht-Koalition bezeichnet wird, die aber wie eine Koalition agiert, ungeachtet der Tatsache, dass wir zeitweise eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen ihren einzelnen Subjekten beobachten“, erklärt der Politologe Sergej Petrow für Radio Bulgarien. „Den politischen Parteien blieb jedoch keine andere Wahl, da die Wähler mehrfach in Folge gezeigt haben, dass es keine politische Formation gibt, die mit einem oder zwei akzeptablen Partnern ein Kabinett bilden kann. Daher wird diese Nicht-Koalition bis zu dem Zeitpunkt bestehen bleiben, an dem ein Schichtwechsel in den Einstellungen der Wähler beobachtet wird.“
Zu den politischen Persönlichkeiten, für die diese unbestimmte politische Zusammensetzung am vorteilhaftesten ist, gehören die Abgeordneten Bojko Borissow und Deljan Pejewski, ist der Politikwissenschaftler Swetlin Tatschew überzeugt.
Swetlin Tatschew
"Die derzeitige Koalition hat ihnen die Möglichkeit gegeben, sich wieder als wichtige politische Akteure zu legitimieren. Die Tatsache, dass die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS) das Zünglein an der Waage für die Verabschiedung der Verfassungsänderungen ist, ermöglicht es ihnen, ein unumgänglicher Faktor zu sein, ohne dass sie in einer Regierung Gewicht haben müssen, deren Negativschlagzeilen sich hauptsächlich auf die PP-DP häufen. Auch für Bojko Borissow ist das von Vorteil, der dadurch die Wählerschaft der beiden Formationen zum Schmelzen bringen kann." 
"Die Aktivität von Deljan Peewski ist auch auf die Veränderungen in der DPS und ihre wachsende Rolle in diesem Prozess zurückzuführen. Das Ziel des Ehrenvorsitzenden der DPS, Achmed Dogan, ist es, die Partei sowohl intern als auch extern zu verändern. Nach außen ist das Ziel, sich von Ankara zu entfernen und einen liberaleren Weg in Richtung Europa einzuschlagen. Innenpolitisch soll die Partei für neue gesellschaftliche Gruppen geöffnet werden, um die Wählerschaft zu vergrößern und ihre Rolle als ausgleichende Kraft im bulgarischen politischen Leben wiederzuerlangen. 
Ein weiteres heißes Thema liefert Stoff für politische Leidenschaften im zu Ende gehenden Jahr 2023 - die Änderung der Verfassung. Beide politische Analysten halten die Versuche der Regierung in dieser Richtung für verfrüht und unüberlegt.

„Die Verfassung ist ein Grundgesetz. Sie gibt den Rahmen vor. Allerdings scheinen die politischen Parteien dort einige ihrer Ideen unterbringen zu wollen, was meiner Meinung nach nicht nötig ist. Wenn wir wirklich wollen, dass unser Justizsystem gerechter funktio-niert, dann geht das meiner Meinung nach nicht durch Änderungen der Verfassung. Letzten Endes hängt das Justizsystem eines Landes, und nicht nur eines Landes, von den persönlichen Qualitäten der Person ab, die die endgültige Entscheidung trifft. Theoretisch lässt sich die Funktionsweise eines Systems wunderbar beschreiben, aber es kommt immer auf den menschlichen Faktor an", sagt Swetlin Tatschew und ergänzt, dass der Wunsch, die Verfassung zu ändern, letztendlich der Grund für das Eingehen einer Koalition der PP-DP mit verhaßten Partnern war. Sie glauben, das ihren Wählern schuldig zu sein, wurden jedoch dadurch zu Geiseln und müssen die Negativschlagzeilen ertragen. Sollten die Änderungen nicht realisiert werden, werden sie keine Antwort darauf haben, warum sie sich auf die so genannte Nicht-Koalition eingelassen haben. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum sie es so eilig haben, noch vor der Rotation der Premierminister ihr primäres Ziel, diese Verfassungsänderungen, zu erreichden.
Der Beitritt zu Schengen und zur Eurozone sind zwei weitere wichtige Prioritäten, an denen die bulgarische Regierung aktiv arbeitet. Obwohl jedes dieser Ziele als Erfolg für das Land gewertet werden kann, ist die Meinung der Öffentlichkeit dazu nicht eindeutig.

Natürlich ist der Beitritt zur Eurozone ein zwingender Schritt, der die europäischen Integration Bulgariens vervollkommnet. Doch es mangelt immer noch an Aufklärungskampagnen, die Ängste in der Bevölkerung sind groß, und die Regierung scheint nicht genug zu tun, um diese zu zerstreuen“, behauptet Swetlin Tatschew.
Aufgrund verschiedener struktureller Probleme des Euro bleibt auch der Politologe Sergej Petrow vorerst skeptisch. "Wir haben uns zwar verpflichtet, den Euro einzuführen, ein Zeitrahmen dafür ist aber nicht festgelegt. Es gibt EU-Mitgliedsstaaten, die den Euro nicht eingeführt haben, deren Wirtschaftsindikatoren aber viel besser sind als der Durchschnitt für die EU“, lautet sein Argument.
Die Demontage des Denkmals der Sowjetarmee in Sofia ist ein weiteres Ereignis, das in der bulgarischen Gesellschaft für große Turbulenzen sorgt.

„Dieses Denkmal scheint der materielle Ausdruck der Spaltung der bulgarischen Gesellschaft zu sein“, bemerkt Sergej Petrow, für den die Debatte für und gegen den Abbau des Denkmals interessant ist. „Ich bin überzeugt, dass ein Großteil der Befürworter und Gegner des Denkmals es nicht als ein einfaches Monument betrachtet. Seit der Gründung des Dritten Bulgarischen Staates sind in der bulgarischen Gesellschaft die Begriffe „Russophile“ und „Russophobe“ im Umlauf. Sie sind in unserem Land zu rein politischen Konzepten geworden. Es geht nicht um die Sympathie für die Sprache, Kultur, die Menschen, Traditionen usw., sondern um die Unterstützung oder Missbilligung der russischen Außenpolitik. Seit der Befreiung Bulgariens von der osmanischen Fremdherrschaft bis heute bildet sie eine starke Trennlinie in der Gesellschaft.“
Für Swetlin Tatchew gibt es drei Arten von Befürwortern und Gegnern des Denkmals, je nach ihren Überzeugungen und Motiven: Linke, die für den Verbleib des Denkmals eintreten, Rechte, die seine Entfernung fordern, und diejenigen, die vor 1989 mit der Regierung oder den Geheimdiensten in Verbindung standen, sich dafür schämen und glauben, auf diese Weise ihre Schuld begleichen zu können, weil sie sich damals nicht gegen das Regime gestellt haben.

Die Kommunalwahlen 2023 hatten das Potenzial, zu einem Stolperstein für die Regierenden zu werden, doch GERB konnten ihre Positionen in den Kommunalverwaltungen behaupten und der PP-DB gelang es, den Sitz des Bürgermeisters in der Hauptstadt zu gewinnen, was eines ihrer wichtigsten Ziele war. Allerdings funktioniert der Stadtrat in Sofia immer noch nicht effektiv, da noch keine Einigung zu seinem Vorsitzenden erzielt wurde. Die offenen Fragen des politischen Jahres 2023 in Bulgarien warten auf ihre Lösung im kommenden 2024.
Übersetzung: Tichomira Krastewa


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