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Der Soziologe Parwan Simeonow und der Politologe Strachil Delijski in einem Interview für Radio Bulgarien

Ein Rückblick auf das politische Jahr 2024 und die Erwartungen der Bulgaren, nach dem Beitritt zu Schengen an neuen Zielen arbeiten zu können

Die politischen Ereignisse eines ganzen Jahres in wenigen Zeilen zusammenzufassen, ist zweifellos eine Herausforderung. Vorgezogene Parlamentswahlen durchzuführen ist in den letzten Jahren zur Regel geworden. Auch 2024 mussten die Wähler zweimal zu den Wahlurnen gehen - im Juni und im Oktober. Neben der Parlamentswahl fand im Juni auch die Europawahl statt. Im Gegensatz zu den bulgarischen Vertretern im Europäischen Parlament, die bereits seit einem halben Jahr arbeiten, haben ihre Kollegen im nationalen Parlament es nicht fertiggebracht, eine reguläre Regierung zu bilden und so wurden Neuwahlen im Oktober 2024 erneut fällig. Auch fast drei Monate nach dieser Wahl, hat Bulgarien immer noch keine rechtmäßige Regierung. Die Aussichten, dass es eine geben wird, sind nicht groß, doch es gibt sie. Einer der wichtigsten Gründe für die Bildung eines regulären Kabinetts ist nach Ansicht einiger Beobachter die Notwendigkeit, den von der derzeitigen geschäftsführenden Regierung vorgeschlagenen Haushaltsplan des Landes für 2025 zu überarbeiten.

Parwan Simeonow

„Der so vorgeschlagene Staatshaushalt für 2025 sieht Ausgaben vor, die sich Bulgarien nicht leisten kann und hoffe, dass es eine Regierung mit einer klaren Mehrheit geben wird, die sich dem entgegenstellt“, erklärte der Soziologe Parwan Stojanow in einem Interview für Radio Bulgarien. Er brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass die Politiker nicht damit anfangen, die Finanzen zu beeinflussen, denn so könnte das Ganze damit enden, dass nicht nur der Staatshaushalt, sondern das gesamte Wirtschaftsleben zur Geisel einer fehlenden regulären Regierung wird. „Der vorgeschlagene Haushalt setzt die Praxis fort, Geld in verschiedene Bereiche fließen zu lassen, in denen Reformen fehlen. So werden verschiedene soziale Gruppen gegeneinander ausgespielt“, vermerkt Simeonow. 
Die positive Nachricht Ende 2024, die bei Politikern, Unternehmen und Bürgern mit Freude und Erleichterung aufgenommen wurde, war der vollwertige Beitritt Bulgariens zum Schengen-Raum am 1. Januar 2025.
„Unser Beitritt zum Schengen-Raum ist in der Tat etwas, zu dem wir uns beglückwünschen können. Er ist ein Schritt in unserer europäischen Integration, aber es ist unwahrscheinlich, dass er von den Massen als großer Erfolg wahrgenommen wird“, sagte der Soziologe.
„Die Unternehmen werden den Beitritt als Erfolg werten, während die breiten Volksmassen sich für andere Themen interessieren. Es wird gegensätzliche Meinungen geben. Während die einen feststellen, dass Bulgarien endlich beginnt, sich endgültig in der EU zu integrieren, zumal dem Land auch der Beitritt zur Eurozone bevorsteht, werden die anderen fragen, warum diese Integration sein muss und ob diese Eurozone nicht ein Selbstzweck ist“.



"Die Mitgliedschaft im Schengen-Raum ist in der Tat ein weiteres von Bulgarien erreichtes Ziel. Die Bemühungen von Politikern und Gesellschaft sollten sich nun auf neue richten wie beispielsweise die Kürzung ineffizienter Ausgaben, sagt Parwan Simeonow und visiert dabei die Debatten über den Staatshaushalt, die gerade geführt werden. 
„Unser zweites Ziel sollte darin bestehen, die sozialen und regionalen Ungleichheiten im Land zu verringern, als Teil einer umfassenden Politik, die sich dem Wohlstand und dem menschlichen Kapital des Landes widmet. Das dritte nationale Ziel, wenn auch sehr abstrakt, sollte darin bestehen, dass in jedem Bereich Bulgariens so genannte Erfolgsgeschichten entstehen. Das Land muss so bald wie möglich damit beginnen, den Menschen Selbstvertrauen zu geben, denn das ist im Moment ein knappes Gut.“
Dem israelischen Historiker Yuval Noah Harari zufolge bedeutet „der Mangel an Dialog und Verständnis für andere Standpunkte, dass es keine funktionierende Demokratie gibt“. Dieses Symptom ist weltweit zu beobachten,  in Bulgarien seit dem Beginn der Covid-Pandemie im Jahr 2020 besonders stark ausgeprägt. Ob es möglich ist, dagegen anzukämpfen, wollten wir vom Politologen Strachil Delijski wissen.

Strachil Delijski

„Ich bin immer ein Optimist, weil ich weiß, dass die Zukunft das ist, was wir daraus machen, und dass die soziale Realität, in der wir leben, das Ergebnis unserer Bemühungen ist, aber auch eine Frage der Motivation“, sagt der Politikwissenschaftler Strachil Delijski. „Es ist wahr, dass die wichtigste Eigenschaft einer demokratischen Gesellschaft die Fähigkeit zum Dialog ist. Sie ist aber auch eine Frage des Verständnisses und der Anerkennung der politischen Gleichheit. In einem Regime, in dem sich verschiedene Gruppen der Gesellschaft durch Konflikte mit anderen Gruppen der Gesellschaft definieren, kann es keinen Dialog geben. Die Probleme der modernen Demokratie sind tiefgreifend und komplex, weil sie dazu aufgerufen ist, die politischen Beziehungen in einem sozialen System wie dem Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu regeln. Daher denke ich, dass es um ein sehr ernsthaftes Gespräch geht über das Verhältnis des Kapitalismus zu der Möglichkeit, seine Probleme auf demokratische Weise zu regeln. Dieses Gespräch wird im Rahmen der internationalen politischen Eliten bereits geführt, doch ich befürchte, dass wir in Bulgarien noch nicht dafür bereit sind. Wir beschränken uns auf eine sehr dünne Ebene des demokratischen Denkens, indem wir annehmen, dass mit dem Ende der Korruption alles in Ordnung sein wird“, betont Strachil Delijski. 
Als politischen Akzent des Jahres 2024 hebt er ein Ereignis hervor, das nicht stattgefunden hat, die Bildung einer regulären Regierung, die wichtige öffentliche Ziele umsetzen könnte. Seiner Meinung nach befinden sich Bulgarien und die Welt an einem Punkt, an dem sie zumindest versuchen sollten, einen neuen gemeinsamen Inhalt zu finden und es wäre am besten, wenn es ein demokratischer ist.
„Es gibt nicht wenige Versuche in die entgegengesetzte Richtung zu steuern, und wenn es keine Bemühungen gibt, die Beziehungen sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch zwischen Gesellschaft und Elite zu demokratisieren, dann warten antidemokratische Alternativen nicht einmal auf eine Einladung, sondern siedeln sich einfach unter uns an“, sagte der Politikwissenschaftler Strachil Delijski abschließend. 

Übersetzung: Georgetta Janewa
Fotos: BTA, BGNES

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